Sternenkinder früher

Patricia Rind

Was früher fehlte - Erinnerung und Raum für Sternenkinder

Grauer Stoffteddy sitzt auf einem Grabstein neben einem kleinen weißen Stern, unscharfer Friedhofshintergrund.

Ein verdrängter Schmerz – Sternenkinder im gesellschaftlichen Tabu


Bis weit in die 1980er- und 1990er-Jahre hinein galt der Tod eines Kindes während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt als gesellschaftliches Tabuthema. Totgeburt, Fehlgeburt oder perinataler Tod – all das wurde weitgehend totgeschwiegen. In vielen Familien wurde nie wieder darüber gesprochen. Auch das Umfeld schwieg – aus Unsicherheit, aus Überforderung oder schlichtweg, weil es keine Worte gab.

Die Trauer der Eltern wurde dabei nicht als echte, vollwertige Trauer anerkannt. Wer ein Kind verlor, das nie lebte oder nur kurz, stand mit seinem Schmerz oft allein da. Und nicht nur im privaten Kreis: Auch medizinische Einrichtungen, kirchliche Institutionen und staatliche Regelungen spiegelten diesen gesellschaftlichen Umgang wider.

Was Eltern früher verwehrt wurde


Für viele betroffene Eltern war es eine doppelte Verletzung: Erst der Verlust des Kindes, dann die Erfahrung, dass sie sich nicht verabschieden durften. In vielen Kliniken war es üblich, das Baby nach der Geburt sofort wegzubringen. Eltern sahen ihr Kind nie. Sie durften es nicht halten, nicht berühren, ihm keinen Namen geben.

Diese vermeintlich „schutzgebende“ Praxis raubte ihnen das Recht auf einen letzten Moment, auf Nähe, auf Erinnerung. Statt Trost zu spenden, hinterließ sie Leere – eine Leere, die viele über Jahrzehnte begleitet hat.

Beispiele aus Berichten Betroffener:


  • Kinder mit geringem Geburtsgewicht wurden nicht in die Geburtsurkunde oder das Familienbuch aufgenommen.
  • Eine Bestattung fand – wenn überhaupt – anonym oder in Sammelgräbern statt.
  • Manchen Eltern wurde nicht mitgeteilt, wo ihr Kind beigesetzt wurde.


In Einzelfällen wurden die sterblichen Überreste sogar für medizinische Zwecke verwendet – ohne Aufklärung oder Zustimmung.


Was heute unvorstellbar klingt, war damals vielerorts Realität.

Medizinische Praxis: Funktion statt Fürsorge


Die medizinische Versorgung fokussierte sich stark auf das körperliche Wohlergehen der Frau – und blendete die psychische Komponente nahezu vollständig aus. Viele Frauen erinnern sich, dass sie nach einer Totgeburt möglichst schnell „entlassen“ werden sollten – aus dem Krankenhaus und aus der Trauersituation.


Emotionale Unterstützung? Psychologische Begleitung? Gab es kaum. Stattdessen hörten Frauen Sätze wie:


  • „Sie sind jung – das klappt beim nächsten Mal.“
  • „Vergessen Sie das besser schnell.“
  • „Es war ja noch kein richtiges Kind.“



Solche Aussagen trafen auf Menschen in tiefem Schmerz. Und sie verstärkten das Gefühl: Dein Verlust zählt nicht. Dein Schmerz ist nicht „wert“, betrauert zu werden.


Dabei beginnt Bindung oft lange vor der Geburt. Und endet nicht mit dem Tod – egal in welcher Schwangerschaftswoche.

Kirchliche Sichtweisen und seelische Auswirkungen


Auch die Kirchen taten sich lange schwer mit dem Umgang mit Sternenkindern. Besonders Kinder, die vor oder während der Geburt starben und nicht getauft wurden, galten vielerorts als „nicht erlöst“. Die Folge: Sie durften nicht kirchlich beerdigt werden. In manchen Gemeinden war eine Trauerfeier sogar ausdrücklich verboten.


Was das für Eltern bedeutete:


  • Kein kirchlich begleiteter Abschied
  • Keine seelsorgerische Unterstützung
  • Keine Segnung, kein Gebet, kein Trostraum


Gerade für gläubige Eltern war das oft eine zusätzliche seelische Belastung. Neben dem persönlichen Verlust kam das Gefühl, ihr Kind sei im spirituellen Sinn „nicht angenommen“ – und sie selbst mit ihrer Trauer ebenfalls nicht.


Erst seit Anfang der 2000er-Jahre begannen kirchliche Initiativen, eigene Segensfeiern für Sternenkinder zu entwickeln. Aber bis dahin lagen Jahrzehnte des Schweigens hinter vielen betroffenen Familien.

 Langfristige Folgen des Schweigens


Wenn Trauer keinen Raum bekommt, sucht sie sich andere Wege. Viele Eltern berichten, dass sie über Jahrzehnte nicht über den Verlust sprechen konnten – weil niemand danach fragte, weil sie sich schämten oder weil sie das Erlebte selbst nicht fassen konnten.

Die langfristigen Folgen:


  • Anhaltende Schuldgefühle: „Ich hätte mehr tun müssen.“
  • Dauerhafte emotionale Leere: „Etwas fehlt – aber ich darf es nicht benennen.“
  • Schwierigkeiten in späteren Schwangerschaften oder Elternschaften
  • Sprachlosigkeit gegenüber Partnern, Kindern oder Freundeskreisen


Viele ältere Menschen sprechen heute zum ersten Mal über eine Fehl- oder Totgeburt aus ihrer Vergangenheit – oft erst, wenn das Thema durch Medienberichte oder eigene Enkelkinder wieder in ihr Leben tritt. Die seelische Verarbeitung beginnt spät – aber sie beginnt. Und das ist ein Anfang.

Warum das Erinnern so wichtig ist


Das Erinnern tut weh. Aber es heilt auch. Und es schafft Würde. Denn ein Kind, das nur kurz oder gar nicht lebte, ist dennoch ein Teil der Familie. Seine Existenz verdient Anerkennung – unabhängig von offiziellen Papieren oder äußeren Umständen.


Heute wissen wir: Abschied nehmen ist ein wichtiger Schritt im Trauerprozess. Und dieser Abschied braucht Zeit, Raum und Rituale.


Als Trauerrednerin begleite ich immer wieder Eltern, deren Kinder nie das Licht der Welt erblickt haben – und doch für immer in ihrem Herzen bleiben. Manche dieser Trauerfeiern liegen Jahrzehnte nach dem Verlust. Manchmal ist es das erste und einzige Mal, dass öffentlich über dieses Kind gesprochen wird.


Eine einfühlsame Trauerrede kann helfen, das Unsagbare in Worte zu fassen. Sie würdigt das Kind, gibt der Liebe Ausdruck – und dem Erinnern Raum.


Es ist nie zu spät, zu trauern. Und es ist nie falsch, eine Stimme für das Ungehörte zu finden.

Der Wandel - heute wird Abschied möglich


Heute haben Eltern mehr Rechte, mehr Raum, mehr Unterstützung. Kliniken ermöglichen das Abschiednehmen, Eltern dürfen ihr Kind benennen, halten, fotografieren. Es gibt Gedenkorte, Eintragungen ins Standesamt, eigene Bestattungen. Auch die Kirchen haben neue Formen der Begleitung entwickelt.

Doch der Weg dahin war lang. Und er begann mit dem Mut, hinzusehen – auch auf das, was früher war.

Für betroffene Familien, die noch heute mit der Trauer oder dem späten Aufarbeiten früherer Verluste ringen, gibt es mittlerweile auch Hilfe und Austausch – deutschlandweit, kostenfrei und respektvoll:

Verwaiste Eltern und Geschwister in Deutschland e. V. –
veid.de
Bundesverband Kinderhospiz e. V.

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